Markus Aellig
Organisten-Alltag 2024
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“Meiner ist vergessen worden” schrieb Samuel Scheidt
September 2024
Als ich den nachfolgenden Eintrag zur Variationenreihe “Vater unser im Himmelreich” von Samuel Scheidt verfasste, wühlte ich ziemlich im Internet herum und fand schliesslich die Seite europeana. Die Seite beschreibt sich folgendermassen:
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Es gibt da einen Brief, den Samuel Scheidt an den Bitterfelder Bürgermeister Georg Cramer, Halle, 13.03.165 sandte. Samuel Scheidt erinnert den Bürgermeister an seine mit seinem Brief vom 25.01.1652 (eig. 23.01.) angebotenen Musikwerke (Noten), worauf er bisher keine Antwort erhalten hat.

In diesem Brief entdeckte ich eine Passage, die mir so bekannt vorkam, dass ich den Brief und seine Transkription hier mit Erlaubnis von “europeana” und unter Quellenangabe veröffentliche:
Ehrenvester, GrosAchtbar, wolweiser Großg: Her bürgerMeister, Hochgeehrter lieber, werther Gönner, den 24 Januarij 1.6.52. habe ich eines Ehrenvesten, Hochweisen Rats brieflein von bitterfeldt bekommen, wegen meiner offerirten Tabulatur undt geschriebenen Musicalischen Stückleins undt gesprech auf weihenachten; (Wer ist das Kind Immanuel etc:) izo für 7. Wochen.

Halte dafür meiner ist vergessen worden, wie es den der lieben Music und Componisten alzeit geschicht, bitte meinen großg: Herren er wolle doch Solches aufs neue erinnern, es stehet gegen meinen Hochgeehrten Herren BürgerMeister widerumb Zu verSchulden nach meinem geringen vermögen.

Mein Hochgeehrter Her hatt doch alle wochen Post nach Halle. Befhele demselben nebenst Seiner lieben Hauskirche in Gottes Gnädigen Schuz undt Schirm, datum Hall den 13 Martij. 1.6.52.

Meines Hochgeehrten
Herren Bürgermeisters dienst willigster
Samuel Scheidt
Brief von Samuel Scheidt an Georg Cramer von Samuel Scheidt (1587-1654) - 1652 - Stiftung Händel-Haus Halle, Germany - CC BY-NC-SA.
https://www.europeana.eu/item/2064121/Museu_ProvidedCHO_museum_digital_14049__technical_number_
Das “vergessen worden” kennen wir Organistinnen und Organisten noch heute.
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Samuel Scheidt: Vater unser im Himmelreich (Cantio sacra)
September 2024
Für das Bettagskonzert in Erlenbach suchte ich auf YouTube nach Orgelversionen des bekannten Liedes "Vater unser im Himmelreich". Zunächst kamen jede Menge Aufnahmen von Georg Böhms bekanntem Orgelchoral. Und dann entdeckte ich zwei beeindruckende Aufnahmen von Samuel Scheidts Cantio sacra: Vater unser im Himmelreich.

Die erste Aufnahme ist von Julian Mallek. Er spielt auf der Orgel der Ev.-Luth. Stadtkirche in Preetz/Holstein mit folgender Disposition:
Rückpositiv
Gedackt 8'
Prinzipal 4'
Rohrflöte 4'
Bauernflöte 2 2/3'
Sesquialter III  11/3'
Dulcian 8'
Hauptwerk
Prinzipal 8'
Flöte traversica 8'
Hohlflöte 8'
Octave 4'
Flöte 4'
Spitzquinte 2 2/3'
Superoctave 2'
Terz 1 3/5'
Mixtur III  1 1/3'
Scharf III  1/2'
Trompete 8'
Pedal
Prinzipal 16'
Octave 8'
Gedackt 8'
Octave 4'
Mixtur IV  2 2/3'
Posaune 16'
Trompete 8'
Trompete 8'
Die zweite Aufnahme ist vom holländischen Organisten Gerben Budding. Budding spielt vor den neun Variationen von Scheidt einen (improvisierten?) vierstimmigen Choral und nach den Variationen eine vollgriffige Improvisation mit Doppelpedal. Die Aufnahme stammt von der Orgel in der Grote Kerk in Epe / Holland.
Disposition (Registernamen übersetzt):
Hauptwerk
Bourodn 16'
Prestant 8'
Hohlflöte 8'
Octave 4'
Flöte 4'
Quinte 3'
Octave 2'
Waldflöte 2'
Mixtur B/D  3-5f.
Cornet D  3-5f.
Sesquialter
Trompete 8' B/D
Oberwerk
Rohrflöte 8' B/D
Quintatön 8'
Traversflöte 8' D
Viola da Gamba 8'
Prestant 4'
Flöte 4'
Gemshorn 2'
Quinte  1 1/2'
Flageolet 1'
Carillon 3f. D
Vox humana 8'
Tremolo
Pedal
Bourdon 16'
Octave 8'
Octave 4'
Posaune 16'
Trompete 8'
Samuel Scheidt gehört zu den wichtigsten Komponisten des 17. Jahrhunderts. Am 3. November 1587 in Halle an der Saale geboren, war er mit 16 Jahren Hilfsorganist an der Moritzkirche. 1607 bis 1609 war er Schüler des berühmten Jan Pieterszoon Sweelinck in Amsterdam. Daraufhin wurde er zum Hoforganisten in Halle berufen und arbeitete als Orgelsachverständiger unter anderem mit Heinrich Schütz und Michael Praetorius zusammen.

Er veröffentlichte zahlreiche Sammlungen von Instrumental- und Vokalwerken (Cantiones sacrae, Concertus sacri, Ludi musici, Görlitzer Tabulatur), die allerdings zum Teil verschollen sind. Verarmt infolge des 30jährigen Krieges starb er am 24. März 1654 in Halle.

Ich habe die neun Variationen von Scheidt plus die beiden Improvisationen von Gerben Budding "ins Reine" geschrieben. Dabei war ich so frei, den Cantus firmus gelegentlich ins Pedal zu versetzen. Wenn Sie sich die Noten "holen" möchten, klicken Sie bitte auf Scheidts Porträt.
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Mögliche und unmögliche Musikwünsche von Traupaaren
August 2024
Ja, ja, die Musikwünsche von Traupaaren - ein Dauerbrenner...

1. Da wünschte sich ein Paar «Tage wie diese» von den «Toten Hosen.» Auf YouTube können Sie schauen, hören und staunen, was der Gitarrist (der vor allem), aber auch der Sänger und die übrige Band da an Tönen, Rhythmen und Sounds produzieren.

Wie soll ich das alles für die Orgel arrangieren und auf der Orgel spielen? Unmöglich! - Erstaunlich, dass das Traupaar die vielen Orgelstücke auf meiner Homepage angehört und sich dann trotzdem für ein anderes Lied entschieden hat.

Wer zahlt mir das Honorar für tagelanges Arrangieren und stundenlanges Üben? Fürs Arrangieren dürfte ich ungefähr 24 Stunden (3 Tage) benötigen und fürs Üben 6 Stunden, total 30 Stunden. Wenn ich die 30 Stunden mit dem bescheidenen Ansatz von 50 Mäusen pro Stunde multipliziere, komme ich auf einen Betrag von Fr. 1'500. So viel wird kein vernünftiges Traupaar für ein dreiminütiges Lied ausgeben wollen

Es (das Traupaar) wird noch einmal meine Homepage durchforsten müssen und sicher fündig werden.

*   *   *   *   *

2. Eine Kollegin mailte mir unlängst, sie sollte an einer Trauung den Song «Dreamer» vom Fledermauskopfabbeisser «Ozzy Osbourne» spielen. (Wie kann man nur ein Lied einer derartigen Krücke für seine Trauung wünschen?)
Ob ich wohl die Noten dazu hätte?

Ich hatte sie zwar noch nicht, hörte mir aber den erstaunlich melodiösen und ziemlich einfach gestrickten Song an, und schaffte es, innerhalb von einiger Stunden, eine passable (und relativ schwierig zu spielende) Orgelversion zu schreiben. Die Noten finden Sie hier.

Die Noten mailte ich an die Kollegin. Diese teilte mir einige Tage später mit, dass Brautpaar hätte sich jetzt anders entschieden.

Ja, ja, die Brautpaare...

*   *   *   *   *

3. Und dann wäre noch eine spezielle Trauung mit drei (3) Eingangsspielen und zwei (2) Ausgangsspielen. Vom Traupaar wurden folgende Stücke gewünscht:
Die Hochzeitsgäste betreten die Kirche:
"And I Love Her"  (The Beatles)

Der Bräutigam zieht mit seiner Mutter in die Kirche ein:
"Amélie"  (Yann Tiersen)

Die Braut tritt mit ihrem Vater in die Kirche ein:
"The Wedding"  (Abdullah Ibrahim)

Jetzt folgt die eigentliche Trauung. Eine Art Zeremonienmeisterin begrüsst alle, hält eine längere Ansprache; Bräutigam und Braut sprechen auch noch; dann kommt der Trauuakt usw. Am Schluss wieder Musik:

Die Gäste verlassen die Kirche:
"Autumn Leaves"  (Joseph Kosma)

Das Brautpaar bleibt sitzen und hört zu:
"Ave Maria"  (Franz Schubert)
Ich musste diese Stücke mit viel Improvisation auf einem kleinen historischen Örgeli mit 17 Pedaltasten zu Gehör bringen.
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O Come, O Come Immanuel
August 2024
Vor einigen Monaten erhielt ich ein Email:
Sehr geehrte KomponistInnen,

Die Evangelische Kirche Schweiz organisiert am 1. Dezember 2024 einen nationalen Singtag. Aus diesem Anlass regt sie alle Kirchgemeinden der Schweiz an, einen Gottesdienst rund um den Gemeindegesang zu gestalten und das gleiche Lied, das bekannteste mit dem englischen Text „O come O come Immanuel“ (siehe beigefügtes Dokument), in den Gottesdienst zu integrieren.

Der Verlag Cantate Domino... schliesst sich diesem Projekt an, indem er einen Aufruf zur Komposition veröffentlicht.

Sind Sie daran interessiert, ein kleines oder sehr kleines Orgelstück von ca. 1' bis 3' zu komponieren, das für alle Niveaus erschwinglich ist und im Gottesdienst gespielt werden kann?

Die Stücke werden in einer gedruckten Sammlung veröffentlicht, die über unsere üblichen Kanäle erhältlich ist.

Vielen Dank im Voraus für Ihr Interesse! Ich freue mich darauf, Ihre Reaktionen zu lesen.

Mit besten Grüßen,
...
In der Beilage war die Liedmelodie:

Ich schrieb dann eine Orgelversion und nahm sie in der Kirche Wimmis auf. Die Aufnahme hören Sie, wenn Sie aufs Notenbild klicken, und die Noten erhalten Sie hier.

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Neues aus der Webdesign-Anstalt
Juni 2024
Es ist Sonntag, und ich habe - Halleluja und Allah-u-akbar - keinen Dienst. Das Wetter ist nicht so wandertauglich. Ich langweile mich etwas und surfe halt im Internet herum. Und dann gerate ich auf die Seite der Kirchgemeinde von Oberwil im Simmental, versuche die Links zu entziffern und staune...
Es hat da so Links wie "Unsere Kirche" oder "Gottesdienste". Können Sie das lesen? Ich jedenfalls habe Mühe. Mein Photoshop sagt mir, dass der Hintergrund weiss ist, also die Rot-Grün-Blau Werte 255-255-255 hat. Die Schriftfarbe der (inaktiven) Links dagegen ist hellstgrau und hat die Werte 233-236-240. Sie hebt sich damit kaum vom weissen Hintergrund ab. Dementsprechend sind diese Links kaum lesbar.

Wenn ich die 3 Werte des weissen Hintergrunds miteinander multipliziere, erhalte ich 16'581'375 Für die Schrift erhalte ich 13'197'120. Grund genug, einmal den alten, braven Dreisatz hervorzuklauben:
Der Hintergrund hat also eine Helligkeit von 100%, die Schrift hat knapp 80%. Wenn man für das menschliche Auge eine lineare Farbwahrnehmung voraussetzt, sollte man doch meinen, die Schrift sei einiges dunkler als der Hintergrund und somit einigermassen lesbar, wie figura zeigt:
Leider ist es mit Nichten und Neffen so. Die Schrift ist praktisch unleserlich, da sie derart hell ist. Offenbar nimmt das menschliche Auge (zumindest meins...) die Hell- / Dunkelwerte logarithmisch wahr:
Die logarithmische Skala zeigt, dass die Schriftfarbe tatsächlich fast gleich hell ist wie der Hintergrund. Die S...mode, Texte in heller und damit schwer lesbarer Schrift anzuzeigen, ist leider auf vielen Webseiten zu beklagen. Was Webdesigner und -innen damit bezwecken wollen, ist nicht bekannt. Wollen diese überbezahlten Damen und Herren überhaupt etwas bezwecken, oder haben sie einfach nur Feude an einer unprofessionellen und schwer zu lesenden Webseite?

Schade und unverständlich, dass sich meine Kirchgemeinde - deren Webseite vermutlich vor allem von Leuten im mittleren und fortgerückten Alter besucht wird - ebenfalls diesem Webseitenschriftfarbenunsinn verpflichtet hat.
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Neue Notenbeispiele
April 2024
Heute, am 16. April, habe ich den ganzen Tag Noten geschrieben.

Zuerst den Folksong «Take Me Home, Country Roads» von John Denver. Eine Kollegin traktiert demnächst an einem Töffgottesdienst (ja, ja, das gibt es...) die Orgel, und die Organistin wurde gefragt, ob sie vielleicht diesen Song für die töfffahrenden Herren und Damen spielen täte. Für dieses Orgelarrangement brauchte ich rund 4 Stunden, machte alles am PC und konnte mich auf einige überaus angenehme Computerprogramme verlassen.



Dann haben die Flötistin Renata Wälti und ich Ende März an einem Konzert einige «Lyrische Stücke» von Edvard Grieg gespielt. Diese Stücke gefielen dem Publikum sehr, auch einer älteren Dame, deren Mann vor kurzem verstorben ist. Die Witwe bat mich, an der Abdankungsfeier für den Verstorbenen zu spielen. Ob es wohl möglich wäre, etwas aus diesen Lyrischen Stücken zu spielen. Ich sagte zu, holte auf IMSLP die Noten und bearbeitete drei dieser Klavierstücke für die Orgel.



...und schliesslich entdeckte ich auf YouTube eine hübsche Version des Evergreens «Blueme» von Polo Hofers Schmetterband in der Version des Projekt-Männerchors «Heimweh».


Die Notenbeispiele erhalten Sie, wenn Sie auf die Bildchen klicken.

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Ein überraschendes Email
April 2024
Vor einigen Tagen erhielt ich ein Email:
Hallo Markus,

ich bin ein in Deutschland lebender Komponist, ich wurde in Frankreich geboren.

Derzeit arbeite ich an einer Komposition „Messe für Sopran und Orgel“. Ich suchte nach Informationen zur Orgeltechnik. Dank Ihrer Internetpräsenz habe ich endlich gefunden, was ich gesucht habe. Mit dieser Nachricht danke ich Ihnen.

Im Juli werden wir die Messe ... aufnehmen. Ich füge Auszüge aus dem Credo der Messe (...) bei.

Ich hoffe, dass unsere Arbeit Ihr Interesse weckt, so wie ich es mit Ihrer Arbeit im Internet war. Nochmals vielen Dank für diese schöne Arbeit.

Viele Grüße
...
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Die IV am Pranger
Februar 2024
Man erlaube die deftige Sprache...

Was ME/CFS- und Long-Covid-Patienten an Stress und endlosem Warten, an Kaltschnäuzigkeit und Empathiemangel, an Demütigung und behördlicher Willkür seitens unserer glorreichen Invalidenversicherung - 4 Jahre nach dem Ausbruch von Corona - immer noch erleben, lässt sich nur (leicht angepasst) mit den Worten von Max Liebermann kommentieren:
Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte.
Der Kassensturz hat kürzlich eine Sendung ausgestrahlt. Bitte lesen Sie im Beitrag ME/CFS und Long Covid weiter.
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Noten und neue Hörbeispiele
Februar 2024
In den letzten Jahren haben sich auf meiner Homepage zahlreiche Noten angesammelt. Brautpaare, Trauerfamilien, Organistinnen und Organisten wünschten sich ein Jodellied oder einen Popsong. Ich hörte mir dann jeweils das gewünschte Stück an und schrieb ein passendes und nicht allzu schwieriges Orgel-Arrangement.

Oft dachte ich mir, es wäre noch praktisch, wenn ich diese Stücke nicht nur als Noten, sondern auch als Hörbeispiele publizieren könnten. Ich nützte eine Sonntagsvertretung in der Stadtkirche Thun aus und nahm mehrere Stücke auf. Was dabei herauskam, sehen und hören Sie hier.
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Die verstimmte Orgel - Modern Times in der Stadtkirche Thun
Februar 2024
Bei einer Generalstimmung werden alle Pfeifen einer Orgel gestimmt. Dann "stimmt" die Orgel eine Zeitlang und klingt rein und schön. Allerdings fällt im Verlauf der Wochen und Monate die Stimmung allmählich auseinander: Die Labialpfeifen werden höher oder tiefer (je nach Temperatur in der Kirche), bleiben aber in sich mehr oder wenger gestimmt. Die Zungenpfeifen gehen eigene Wege: Einige Pfeifen behalten die Stimmung, andere werden höher, und wieder andere werden tiefer.

Das führt dazu, dass die Zungenregister oft nicht gebraucht werden können, eben, weil sie so verstimmt sind. Das ist schade, denn der metallisch-scharfe und manchmal eigenwillige Klang der Zungenregister bereichert den Gesamtklang einer Orgel ausserordentlich.

Was tut man da? Entweder stimmt man die Zungenpfeifen selber, mit Hilfe eines Tastenhalters. Das ist billig und kostet die Kirchgemeinde nichts. Oder man ruft den Orgelbauer an. Der kommt dann für ein oder zwei Stunden, was ziemlich ins Geld gehen kann. Oder man macht gar nichts und lässt die Zungenpfeifen links liegen; das ist am allerbilligsten, aber auch allerschadesten.

Wenn sich der Orgelbauer für eine Generalstimmung angemeldet hat, heizen in der Regel die Sigristin oder der Sigrist die Kirche vor So wird eine Innentemperatur errreicht, wie sie am Sonntag im Gottesdienst oder bei einem Konzert herrscht. Der Orgelbauer stimmt also (Referenzton a' = 440 Hz), und der Organist freut sich. Dann geht der Orgelbauer seines Weges, die Kirchenheizung wird wieder ausgeschaltet oder reduziert.

Wenn dann der Organist einen Tag oder so später in die Kirche geht und üben will, dann findet er zu seinem Leidwesen eine mehr oder weniger verstimmte Orgel vor. Aber er (der Organist) kann sich ja damit trösten, dass die Orgel am darauffolgenden Sonntag wieder rein und schön klingen wird, weil dann die Kirche geheizt sein wird.

Oder der Organist probt unter der Woche mit einem Solisten (z.B. einem Trompeter) für den Gottesdienst vom darauffolgenden Sonntag. Die Proberei ist etwas mühsam, denn die Orgel ist wegen der tiefen Innentemperatur ziemlich tief (unter 440 Hz), und der Trompeter hätte es doch gerne möglichst hoch (442 Hz oder noch höher). Am Sonntag werden unsere wackeren Musiker belohnt: Die Orgel klingt jetzt höher, und der Trompeter ist's zufrieden.

Generell gilt:
Je höher die Temperatur, umso höher die Orgel   -   Je tiefer die Tenperatur, umso tiefer die Orgel
Seit Jahren spiele ich in den Kirchen von Wimmis und Erlenbach. Dort habe ich mich schon oft über die verstimmten Orgeln geärgert, wenn ich unter der Woche übte. Am Sonntag herrschte dann wieder Freude und Kuchen, denn die Orgeln tönten jetzt wieder ziemlich rein und sehr schön.

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Anders ist die Situation in der Staktkirche Thun. Dort wird im Winter die Kirche durchgehend geheizt, auch unter der Woche. Die Temperatur auf der Empore liegt bei 16° - 17° Celsius. Am Sonntag wird dann ein wenig geheizt. So ist die Orgel auch unter der Woche gut gestimmt, und das Spiel auf ihr macht ausnahmslos Freude.

Früher kam es manchmal vor, dass die Orgelstimmung bei einem gut besuchten Gottesdienst oder Konzert auseinanderdriftete. Die vielen Leute heizten die Kirche zuätzlich auf, die höhere Temperatur erreichte zuerst das Rückpositiv, und dieses wurde zunehmend höher, während die Pfeifen im "kühleren" Hauptgehäuse - also Hauptwerk, Schwellwerk und Pedal - in der tieferen Stimmung blieben. Deshalb verzichtete ich manchmal auf den Einstz des Rückpositivs, wenn viele Besucher zu erwarten waren.

2014 und 2015 wurde die Kirche einer gründlichen Renovation unterworfen: Im Kirchenestrich wurden Tonnen von Klimageräten installiert, und in die Decke über dem Kirchenschiff fräste man zwei lange, schmale Schlitze. Durch diese Schlitze wird jede Menge Luft via die Klimageräte umgewälzt.

Das erzeugt manchmal richtig Ferienstimmung, wenn die Blasgeräusche moderat sind und wie karibisches Meeresrauschen klingen. Es kann aber auch vorkommen, dass ein regelrechter Tornado durch Kirche braust. Schauen Sie doch bitte mal im Organisten-Alltag vom März 2020 nach. Dort wird unter dem Titel "Vom Winde verweht"  oder  "Der Geist weht, wo er will" ein solcher Tornado beschrieben.

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Kürzlich spielte ich im Gottesdienst in der Stadtkirche Thun. In der Woche zuvor hatte ich jeden Tag fleissig geübt, denn ich wollte wieder mal einige Hörbeispiele aufnehmen. Ich freute mich am Klang der Orgel, an den gut gestimmten Zungenregistern und am "stimmungsmässig" tiptopen Zustand des Rückpositivs.

Und dann komme ich am Sonntag in die Kirche und begebe mich auf die Empore. Es ist dort unerwartet warm, und ich denke: "Oha lätz, jetzt ist das Rückpositiv sicher höher als der der Rest der Orgel. Schade!" Und dann traktiere das vorgesehene Eingangsspiel, die "Chacony in g-moll" von Henry Purcell. Bei diesem Stück habe ich auch das Rückpositiv einbezogen. Wie ich da so spiele, stelle ich tatsächlich eine schauderhafte Verstimmung fest. Das Stück tönt wie auf einer ramponierten Wurlitzer Kinoorgel.

Pfui!  -  Oder wie wir in Adelboden früher sagten: Huss Mädi!

Ich musste dann halt die Chacony umregistrieren, auch das Zwischenspiel. Macht nicht so Freude. Ich war immer noch der festen Meinung, das Rückpositiv sei höher als der Rest der Orgel, nahm den Oktav 4' vom Hauptwerk und den Principal 4' vom Rückpositiv und zog noch das Stimmgerät bei, um zu sehen, wieviel höher das Rückpositiv sei. Und dann...
Denkste!
Das Rückpositiv war gar nicht zu hoch; es hatte die perfekte Stimmung. a' = 440Hz.
Der REST DER ORGEL (Hauptwerk, Schwellwerk, Pedal) WAR HÖHER!!!
Warum?